Im folgenden Gastbeitrag wird es um Namen gehen und wie queere und/oder linksradikale Personen mit ihnen umgehen. Der Text ist ein auf persönlichen Erfahrungen basierender Bericht und soll verstanden werden als ein Nachdenken über die verschiedenen Aspekte von Namen und Namensgebungspraktiken. In gewisser Weise ist der Text ein Beitrag zu verschiedenen Debatten zugleich, aber er ist an keine*n Bestimmte*n gerichtet. Wer Lust hat, kann ihn zum Anlass nehmen, die eigenen Erfahrungen zu reflektieren oder mit anderen zu besprechen.
Der Inhalt wird abschnittsweise erzählt. Hier eine Übersicht von Inhalt und Abschnitten zur besseren Orientierung:
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- Es gibt eine Einleitung (Abschnitt Die Funktionen von Namen).
- Im ersten Hauptteil geht es um die queeren Besonderheiten (Abschnitte Die Notwendigkeit selbstgewählter Namen und Ambivalenz von Outings und das Beibehalten von dead names).
- Der zweite Teil fokussiert linksradikale Aspekte (Abschnitte Namen aus dem politischen Aktivismus und Über temporäre Namen und das widerständige Moment darin).
- Es wird im dritten Teil versucht, beides zusammen zu denken (Abschnitte Die Irrelevanz und Unaufgeregtheit des Ganzen und Aufkommende Probleme und Limitationen).
- Zum Schluss gibt es eine Zusammenfassung und abschließende Worte (Abschnitte Zusammenfassung und Schlusswort: Alerta, queerfeminist Anarchista! ( oder so )).
Ich habe den Bezug zu meinen Namen verloren
Queere und linksradikale Namenspraktiken und ihre Effekte.
Ein Gastbeitrag einer Person von Queering Defaults.
30. September 2021.
Ich habe den Bezug zu meinen Namen verloren.
Ich bin nicht-binär, queer und Teil der linksradikalen Szene. Mein Umfeld, das sich aus sehr unterschiedlichen Kreisen zusammensetzt, hat verschiedene Wissensstände bezüglich meiner eigenen Queerness.
Das Verhältnis, das ich zu meinen Namen habe, ist ein besonderes. Es ist geprägt durch Entfremdung, Veränderung und Selbstermächtigung. Und ich bin überzeugt, dass besonders Menschen, die sich in der queeren, radikalen Linken bewegen, diese Erfahrung teilen.
Die Funktionen von Namen
Welches sind die Funktionen, die ein Name in unserem gesellschaftlichen Kontext erfüllt? Namen sollen zum einen Selbstidentifikation ermöglichen. Du lernst, dich in dem Namen, der für dich genutzt wird, wiederzufinden und baust auf ihm ein Selbstkonzept auf. Zum anderen dient er auch zur Erkennung durch Fremde. Über wen du redest, kannst du besser anhand von Namen verdeutlichen, sodass auch andere wissen, wen du meinst. Namen werden zudem mit bestimmten Eigenschaften assoziiert, etwa einem Geschlecht oder Alter, das üblicherweise den Namen trägt. Es gibt zudem Stereotype wie den „Kevin“, den „Hans-Peter“, die „Karen“ oder die „Jacqueline“ (oft mit dazugehörigen klassistischen oder sexistischen Abwertungen).
In Dokumenten wie Geburtsurkunde oder Personalausweis wird außerdem deine Unverwechselbarkeit festgelegt. Die staatliche, patriarchale und kapitalistische Nutzbarmachung von Namen leitet sich vor allem aus der eineindeutigen Identifizierbarkeit einer Person ab. Wer einen Namen und ein passendes Ausweisdokument besitzt, kann von Staaten erfasst und Wohnsitzen, Arbeitsstellen oder Bankkonten zugeordnet werden. Ein Name inkl. offiziellem Nachweis dessen bedeutet Zugang zu Arbeitsmarkt, ermöglicht Staatenzugehörigkeit, Asylantrag oder Bildung, kann in Intersektion mit Rassismus aber auch Prozesse wie Wohnungssuche erschweren. Hast du kein Dokument, das mit deinem Namen (und exaktem Geburtsdatum) deine Existenz beweist, bist du automatisch staatenlos, nichtexistent, weniger als ein Mensch. Staaten können Namen als biopolitische Angriffspunkte für Machtwirkungen benutzen (vgl. hierfür Foucault’s Theorien).
Ich denke, dass einige dieser etablierten gesellschaftlichen Funktionen, Assoziationen und Nutzbarmachungen in einem linksradikalen, queeren Kontext nicht mehr zutreffen bzw. aktiv abgelehnt werden. Wie es dazu kommt, möchte ich im Folgenden versuchen, zu beschreiben. Ich werde Gefühlen und kontextspezifischen Praktiken auf den Grund gehen und nachzeichnen, wie das Verhältnis radikaler, linker Queers zu ihren Namen entsteht. Beispielhaft werde ich meine persönlichen Beziehungen zu meinen Namen und Kontexten anführen.1
Die Notwendigkeit selbstgewählter Namen
Der Reihe nach:
Ich habe mehrere Namen, die unterschiedlich rezipiert werden und die ich zu verschiedenen Zeitpunkten mit oder ohne eigenes Zutun bekommen habe.
Da wäre einmal mein Geburtsname, also der Name, mit dem ich am längsten gelebt habe, der mir von meinen Eltern gegeben wurde. Dieser Name hat eine Geschichte, meine Familie, einige Arbeitsstellen und die Uni kennen mich darunter. In meinem Fall ist der Geburtsname ein sog. dead name, d.h. ein Name, den queere Personen im Rahmen einer Transition ablegen, weil er u.a. ein falsches Geschlecht impliziert.
Im Gegensatz zu manch anderen trans*, nicht-binären bzw. genderqueeren Personen, habe ich gute Erinnerungen an meinen dead name. Ich mag ihn, trotz einigen schwierigen Gefühlen, die an ihn geknüpft sind. Objektiv betrachtet klingt er schön, vor allem in Kombination mit meinem Nachnamen. Trotzdem brauchte ich von diesem Namen Abstand, denn durch die Zuweisung von Geschlecht und Namen bei der Geburt ist der dead name nahezu untrennbar mit geschlechtsspezifischen Zuschreibungen und Rollenerwartungen verbunden. Für mich war es einfacher, altes Pronomen und Namen zeitgleich abzulegen, um jenen irrtümlicherweise zugeordneten Geschlecht(sspezifischen Erwartungen) zu entkommen und so wählte ich selbstbestimmt einen neuen Namen.
Diesen selbstgewählten Namen nutze ich im privaten Umfeld, z.T. in der Uni und in progressiven Arbeitsstellen. Unter Umständen werde ich ihn eines Tages auch in meinen Dokumenten eintragen lassen.
Ich bin nicht-binär.
Nicht-Binär zu sein bedeutet allem voran, unsichtbar zu sein, weil es Nicht-Binarität im hegemonial zweigeschlechtlichen Patriarchat und in seiner Gesellschaft nicht geben kann. Daher ist es, um zu existieren, eine Grundvorraussetzung, entgegen der etablierten Zweigeschlechtlichkeit wahrnehmbar zu sein und stets auf die eigene Existenz hinzuweisen. Du kannst dir im Patriarchat Gehör verschaffen, wenn du mit einem „Knall“ etwas änderst, indem du zum Beispiel sagst: Mein alter, bei der Geburt zugewiesene, Name ist jetzt ein dead name, ich habe einen neuen Namen und andere Pronomen, respektiere das bitte!
Andere Namen und Pronomen zu wählen sind fester Teil queerer Überlebens- und Existenzrechtspraxis. Entsprechend machen auch die meisten Queers, die keine cis Personen sind, einen solchen Prozess durch.
Einen anderen Namen zu wählen ist ein empowernder Schritt, weil er reale Veränderung schafft und Selbstermächtigung bedeutet. Doch er bringt auch die Verletzlichkeit und Widersprüchlichkeit von Outings mit sich. Nun können andere etwas „neues“ falsch machen, indem sie bspw. deinen dead name oder falsche Pronomen benutzen. Das ist anders, als wenn jemand vergisst, ob du „Anne“ oder „Anna“ heißt, da letztlich die selbe Person mit dem gleichen Geschlecht gemeint ist. Werden trans*, nicht-binäre oder inter* Personen mit dead names angesprochen, spricht es ihnen zugleich ihr Geschlecht und ihre Existenz ab. Manche Queers schmerzt es umso mehr, wenn sie trotz ausdrücklicher Ankündigung und Vorstellung mit gewünschten Pronomen misgendert werden.
Ambivalenz von Outings und das Beibehalten von dead names
Mit einem ersten offiziellen Outing inklusive Namensverkündung ist es jedoch nicht vorbei. Es wird immer Menschen oder Behörden geben, die noch den dead name kennen. Das führt auch zu der sehr spezifischen, queeren Erfahrung, regelmäßig in ein Umfeld zurück zu kehren, in dem Menschen dich anders abgespeichert haben.
Bei mir persönlich bedeutet das zum Beispiel, dass ich, wenn ich nach Hause zu meiner Familie fahre, zurückkehre in ein Leben, das unter meinem dead name existiert. Ich bin nicht bei meiner Familie geoutet, das heißt, sie kennen meinen selbstgewählten Namen nicht. Komme ich zu ihnen, nutzen sie für mich eine (vergeschlechtlichte) Bezeichnung, die nicht aktuell ist. Mein Gehirn registriert diesen veralteten Begriff und öffnet verstaubte Schubladen, in denen mein Leben und meine Selbstidentifikation von vor einigen Jahren stecken. Es ist jedes Mal wieder irritierend, in diese alten Boxen abzutauchen, denn ich bin ja längst nicht mehr die Person, die in solchen Momenten aus den Schubladen herausgekramt wird, sondern bin gewachsen und habe mich verändert. Es ist komisch, sich selbst dabei zu zu beobachten, wie das aktuelle Ich beim Betreten dieses Orts, dieser familiären oder behördlichen Situation, wie automatisiert den dead name wie eine alte Jacke aus dem Schrank holt und überstülpt. Diese olle dead name-Jacke, die eigentlich für jemand anderes, nämlich eine Person aus der Vergangenheit, reserviert ist… Ich fremdele vor mir selbst, während ich in diesem falschen, unpassenden Kleidungsstück eine Rolle spiele und so tue, als ob ich noch eine für meinen Alltag relevante Verbindung zu diesem dead name habe.
Diese dead name-Performance ist ein mentaler Spagat zwischen Aktualität, Vergangenheit, Lüge und Verstecken. Das Merkwürdigste daran ist jedoch, dass ich diese Performance so häufig durchführe, dass sie unbestreitbar Teil meiner Lebensrealität ist. Ich kann mich in solchen Momenten nicht vollständig von der dead name-Performance abgrenzen, erstens, weil es mal meine eigene Lebensrealität war und zweitens, weil ich in dieser dead name-Rolle neue Erinnerungen schaffe, die nicht der Vergangenheit angehören. Es hat etwas von einer „2-in-1-Identität“, im Sinne des gleichzeitigen Erlebens zweier verschiedener Personen in der selben Person. Dies ist meiner Ansicht nach vor allem eine Erfahrung, die (gender)queere Personen machen.
Auch für befreundete Personen ist es mitunter unangenehm, meinen dead name zu kennen. Sie erfahren auf gewisse Weise selbst diesen Widerspruch meiner 2-in-1-Identität. Umso konfliktreicher wird es, wenn sie durch Besuche zu Hause, Behördengänge oder Annahme von Paketen gezwungen werden, den dead name sogar aktiv zu gebrauchen und quasi mit Erlaubnis meine heutige Existenz dadurch zu leugnen, dass sie den falschen Namen verwenden sollen. Vor allem befreundete nicht-cis Personen bringt dies in eine schwierige Situation, da sie nun eine Information über das „alte, tote“ Leben von mir haben, die sie nicht wissen wollten, und weil sie mitunter an den eigenen, schmerzvollen Prozess erinnert werden.
Viele Queers sagen, dass ein Outing Besserung bringt. Daran glaube ich auch, doch ich stehe vehement dafür ein, dass sich Zeit gelassen werden kann und Outings persönliche Entscheidungen von Menschen sind. Dass ich mich bis jetzt noch nicht dazu entschieden habe, meinen dead name „auszulöschen“, indem ich der Familie Bescheid gebe und die Personalien ändern lasse, ist einerseits belastend, andererseits möchte ich diese Entscheidung verteidigen, weil ich mich nicht dazu drängen lassen möchte, es ihnen zu erzählen. Ich will warten, bis ich bereit bin.
Doch trotzdem nagt an mir die Scham, das Outing „nicht hinter mich gebracht zu haben“ und ich höre die Stimmen, wie sie mir meine Nicht-Binarität und Queerness absprechen und sie zischelnd sagen, dass ich in der Queerness nur zu Besuch sei, weil ich es „nicht komplett durchziehen“ würde. „Komplett durchziehen“ bedeutet dann eben auch, „offiziell“ einen anderen Namen anzunehmen. Mit der Erwartung, sich zu Outen, geht auch die Erwartung einher, den dead name aus Standesämtern zu tilgen und die Person, die auf diesen Namen reagierte, hinter sich zu lassen. Zum jetzigen Stand habe ich das nicht in allen Lebensbereichen getan und erfülle somit einige Normen der queeren Szene nicht. Stattdessen behalte ich also den dead name und die 2-in-1-Identität noch etwas an meiner Seite.
Namen aus dem politischen Aktivismus
Als ob es nicht schon kompliziert genug wäre, zwei parallele, mal tote, mal lebendige Identitäten zu haben, die verschieden bezeichnet werden und doch zusammengehören, gibt es in meinem Leben auch noch die Namen, die ich durch politischen Aktivismus bekommen habe.
In der radikalen Linken lohnt es sich, den Namen, der auf dem Personalausweis steht, um jeden Preis zu verstecken. Kennst du Menschen, die aus welchen Gründen auch immer ins Radar der Strafverfolgungsbehörden kommen, kann es dir passieren, dass die Polizei auch ein Interesse daran hat, herauszufinden, wer du bist. Repressionen aufgrund von politischem Aktivismus zu entgehen wird einfacher, wenn eigentlich keine*r so richtig weiß, wie du heißt und dich und deine Personalien damit nicht gegenüber der Polizei ausplaudern kann. Beweggründe für einen neuen, politikspezifischen Namen sind schützende Anonymität, Strategien gegen die Kriminalisierung von Antifaschismus und die Vermeidung von Strafprozessen.
Also legst du dir mit Beginn des antifaschistischen Aktivismus in der Regel ein „Szene“-Pseudonym zu. Dieser wird mehr als ein Spitzname, da er täglich und so intensiv genutzt wird, dass er dein richtiger Name wird. Nur enge Vertraute, die mit dir nach einer Blockade potentiell in die Gefangenensammelstellen wandern könnten, kennen auch deinen Perso-Namen, um dich gegenüber Anwält*innen oder Ermittlungsausschuss identifizieren zu können und in Gewahrsam der Polizei erkennen und unterstützen zu können.
Hier liegen Parallelen zur spezifisch queeren Namens-Realität: Der Perso-Name zeigt im aktivistischen Kontext ähnliche Eigenschaften – er wird verschwiegen und ist nur für Staat, Behörden und uneingeweihte Angehörige einsehbar. Das Szenepseudonym ist in den meisten Fällen ebenfalls selbstgewählt. Für deine Mit-Aktivist*innen kann das Wissen um deinen Perso-Namen bedeuten, sensible Informationen von dir zu haben, die sie gar nicht wollten. Der Perso-Name steht ebenso wie der dead name für eine andere, für sie irrelevante und unerreichbare Realität und ein ihnen sonst unbekannter Aspekt deines Lebens. In meinem Fall verdoppelt sich dieser Effekt: Menschen können nicht nur meinen selbstgewählten Namen „entdecken“, der das ist, was bei anderen der Perso-Name ist, sondern zusätzlich noch meinen dead name. Es ist wie eine weitere Identitätsebene, die ich nur habe, weil ich queer bin.
Doch das Wissen um Perso-Namen kann auch anders bewertet werden, vor allem in engen Bezugsgruppen. Eine befreundete queere, linksradikale Person berichtete mir von einem deutlichen Unterschied im Umgang mit dead names und Perso-Namen. Wenn diese Person den Perso-Namen einer*s Genoss*in kennt, so gibt ihr das auch das Gefühl, den*die Genoss*in besser als andere zu kennen, weil sie „eingeweiht“ genug ist, um eine so sensible Info zu bekommen. Der soziale Wert des Namens steigert sich.
Bezüglich genderqueeren Personen2 bleibt es für meine*n Gesprächspartner*in dabei, dass der Perso-Name bzw. dead name eine unerwünschte Information ist. Sind diese genderqueeren Personen hingegen Teil der engen Bezugsgruppe ist es in Ordnung, den Perso-Namen, d.h. den dead name zu wissen, weil die Antirepressionsmaßnahmen in gewisser Weise queere Belange aushebeln. Die Möglichkeit, ein*e Genoss*in im Falle einer Verhaftung zu unterstützen, wiegt hier mehr. Im aktivistischen Kontext erfolgt damit eine Verschiebung des queerspezifischen Umgangs und Framings von Geburtsnamen.
Über temporäre Namen und das widerständige Moment darin
Doch der Aktivismus bringt noch mehr Namen mit sich: Für einzelne Aktionen legt man sich Wegwerfnamen zu, mit denen man sich auf der Demo rufen kann, wenn’s brenzlich wird. Wegwerfnamen gibt es auch für länger geplante Aktionen, die nach einigen Monaten wieder verfallen. Und auch eine Art „Nicht-Namen“ gibt es: Nämlich die bewusste Auslassung einer Selbstbezeichnung. Unter dem Motto „Keine Namen, keine Strukturen“ kann es durchaus sinnvoll sein, sich in einer neuen Aktionsgruppe nicht einmal mehr namentlich vorzustellen. Befragt bspw. die Polizei dich nach den Leuten, mit denen du unterwegs warst und du hast nicht mal einen Namen zu ihnen, tja, dann wird wohl auch keine*r identifiziert werden können.
Es ist innerhalb der radikalen Linken etwas ganz normales, solche temporären Bezeichnungen für sich auswendig zu lernen. Codewörter ersetzen die Funktion von Namen und Namen verlieren dadurch an Wichtigkeit. Es bringt eine gewisse Freiheit mit sich, zu lernen, dass die scheinbar unzerrüttbare Eindeutigkeit und Unveränderlichkeit von Namen völlig haltlos ist. Für Gesellschaft, Patriarchat und Staat sind Personalausweis und Name unendlich nützliche Tools, da sie durch sie Macht gegenüber den Bewohner*innen eines mit Grenzen definierten Gebiets ausüben können. Strafverfolgungsbehörden nutzen Namen, um die Wirkungen von Gesetzen und Justiz real werden zu lassen. Ständig betonen und wiederholen Staat und Kapital, dass Namen wichtig und höchst individuelle Marker für Personen (oder in ihren Augen wahlweise „Straftäter*innen“ oder „Angehörige der Nation“) sind.
Die radikale Linke lehrte mich: Das ist Quatsch, da musst du nicht mitmachen. Die Vorstellung, einen Ausweis haben zu müssen, der dich für andere eindeutig identifizierbar macht, ist eine, die aus staatlicher Kontrolle hervorgegangen ist. In unseren persönlichen Beziehungen geht es um viel mehr als dieses Wort, das mir und dir angeheftet wurde. Du kannst auch mit Menschen befreundet sein, ohne jemals ihren „echten“ Perso-Namen gesehen zu haben, das tut unserer Verbundenheit und Solidarität keinen Abbruch. Die queere Praxis zeigte mir zusätzlich: der vergeschlechtlichte Name, den dir das Patriarchat gegeben hat, ist nichts, wofür du dich aktiv entschieden hast und daher kannst du ihn auch getrost ablegen (selbst, wenn dies für deine Eltern, die deinen Namen ausgesucht haben, erstmal eine grundlegende Veränderung ist).
Beides ist Teil von Selbstermächtigungsstrategien. Namen ihre Wichtigkeit abzusprechen, ist, wenn ich das so sagen darf, in gewisser Weise ein revolutionärer Akt und ein Moment des Widerstands gegen patriarchale und staatliche Normen.
Schreit der Staat üblicherweise „Identitätsdiebstahl, Betrug, vorsätzliche Täuschung!“, wenn du dir einen anderen Namen nimmst, so antwortet die radikale Linke: „Wieso denn nicht? So schütze ich mich vor euch.“ Schreit das Standesamt beim Wechsel des Namens „Krankheit, Transsexualismus, Variante der Geschlechtsentwicklung!“, so antworten die Queers: „Eure Engstirnigkeit ist nicht mein Problem, ich weiß am besten wer ich bin.“
Die Irrelevanz und Unaufgeregtheit des Ganzen
Trotzdem fühlt sich das Ablegen von Namen selten heroisch oder revolutionär an. Vielmehr hat sich die Praxis, neue Namen zu wählen oder mehrere gleichzeitig zu haben zu einem alltäglichen Umstand, der nur noch selten irritiert, normalisiert. Es ist Teil queerer und linksradikaler Realität, auf personifizierte Bezeichnungen (sprich: unveränderliche Namen) zu scheißen. So wird dieser in den Augen der gesellschaftlichen Aufsichtsorgane aufmüpfig gelabelte Akt zu einem unaufgeregten Alltagselement.
Ein gutes Beispiel für diese selbstverständliche Normalität ist folgende Situation: Vor kurzem saß ich mit befreundeten, großteilig queeren Aktivist*innen in der Küche zusammen. Nach Ende einer Aktion, auf der wir temporäre Wegwerfnamen für einander nutzten, stellten wir die Frage, ob jetzt „alltägliche Namen“ genutzt werden können. Daraufhin sprachen wir einander entweder mit dem Szenenamen oder mit Perso-Namen an, je nachdem, ob wir uns in einem Polit- oder Privatrahmen zuerst kennengelernt hatten. Für die nicht-cis Personen unter uns wurde natürlich der selbstgewählte statt des Perso-Namens verwendet. Eine der anwesenden Personen begann dann, uns nach Namensvorschlägen zu fragen, es sollte ein neuer Szenename her, der alte sei schon zu lange genutzt. Wir brainstormten gemeinsam, entsprechend des Genders der Person sollte es ein geschlechtsneutral kodierter Name sein. Auch eine weitere Person bemerkte, dass sie ihren Namen satt habe, er sei schon so lange in Benutzung und könne mal erneuert werden. Wir sprachen auch über Namen in der queeren Szene, für die sich sehr viele entscheiden (etwa „Noah“, „Alex“ oder Varianten von „Finn“), suchten im Netz wie werdende Eltern nach „beliebten Babynamen“ und parodierten so tradierte Namensgebungsprozesse. Wir spielten mit Worten und Buchstabenkombinationen und interessierten uns dabei nicht dafür, ob es einen Namen wirklich gibt und irgendwer ihn offiziell anerkennt. Im Gegensatz zu Geburtsurkunden und ihren Reglementierungen war es uns egal, ob der Name mit den Geschlecht des Babys übereinstimmte und keine*r ließ sich einen geschlechtsverdeutlichenden Zweitnamen aufdrängen, wie es etwa für die „Carla Emilia“s dieser Welt der Fall ist.3 Zuletzt tauschten wir uns darüber aus, ob deutsche Aktivist*innen sich ausschließlich deutsche Namen geben sollten, um keine Exotisierung bzw. kulturelle Aneignung zu betreiben.
In dieser Beispielssituation ist gut zu erkennen, welcher Umgang mit Namen Normalität in der radikalen Linken und queeren Szene erlangt hat. Ohne, dass es zu Irritationen oder Nachfragen kommt, wird klar zwischen temporären und dauerhaften Namen getrennt, es wird gemeinsam eine Umbenennung angegangen und auf einer Metaebene reflektiert, was hinter Namen steckt. Dieser Umgang zeigt, wie irrelevant es in diesem Kontext geworden ist, eineindeutige Identifikation zu erreichen und wie es ohne große Aufregung abgelehnt wird, nur einen einzigen, für immer bestehenden Namen zu haben. Namen sind Schall und Rauch, Namen kannst du wechseln wie Klamotten, wenn du keine Lust mehr darauf hast, und zwar ohne, dass dies in irgendeiner Form anstößig wäre.
Aufkommende Probleme und Limitationen
Was sind nun jedoch die Folgen und Limitationen dieser Praxis?
Völlig spurlos geht die Vielfalt und Gespaltenheit der Namen und Identitäten(bezeichnungen) nicht an mir vorbei. Abgesehen von empowernden Schritten wie dem Verwenden eines selbstgewählten Namens hat das häufige An- und Ablegen dieses Identifiers zu einer Distanzierung von jedem einzelnen Namen geführt: Ich habe den Bezug zu meinen Namen verloren.
Ich muss mir etliche Namen merken, einige davon nur für sehr kurze Zeiträume, und ich muss adäquat darauf reagieren. Verpasse ich, dass ich angesprochen werde, entgehen mir Informationen, die an mich gerichtet waren, antworte ich verlangsamt, führt dies zu Verwirrung auf Seiten der Menschen, die mich angesprochen haben. Zu den einzelnen Namen muss ich mir zusätzlich auch noch merken, wer den jeweiligen Namen kennt und in welcher Aktion ich wie genannt werde. Es kann also vorkommen, dass ich auf eine Mail mal mit einem falschen Pseudonym antworte und es so zu Missverständnissen und Gefährdung meiner Anonymität oder einem unbeabsichtigten Outing kommt.
Manchmal dauert es eine ganze Weile, bis ich eine Verbindung zu einem Namen aufbaue, und im Prozess, sich an ein Pseudonym zu gewöhnen, habe ich nur eine auswendiggelernte, temporär und kontextuell begrenzte Funktion dazu im Kopf. Schöne Gefühle, wie etwa die ganz besondere, körperliche Resonanz, die ich früher bekam, wenn eine Person für die ich etwas empfand meinen Namen aussprach, erlebe ich mittlerweile viel seltener. Weil ich nicht weit genug verinnerlicht habe, dass ich gemeint bin, weil immer eine bewusste Denkleistung dazwischen liegt. Schreibe ich Texte, fühlt es sich wie Unterschreiben für wen anderes an, wenn ich meinen Namen darunter setze. Von Stolz keine Rede, eher Distanz und Schwierigkeit, das Label unter der eigenen Arbeit als mein eigenes zu erkennen.
Die Trennung meiner Namen führt letzten Endes auch dazu, dass sich Teile meines Lebens weit voneinander entfernen. Das Leben zu Hause unter meinem dead name ist sowieso wie eingekapselt und in Eis konserviert bis zum nächsten Besuch, doch auch privates Leben und Polit-Persona sind kaum unter einen emotionalen Hut zu bringen. Manchmal erinnert es an ein Undercover-Dasein. Ich existiere eher punktuell und kontextabhängig, während ich penibel darauf Acht gebe, nur bestimmten Leuten bestimmte Namen zu nennen. Das zeigt sich auch, wenn über mich gesprochen wird. Wer meinen Szenenamen kennt, weiß oft nicht, was ich letzten Sommer gemacht habe und klingelt an meiner Tür ein*e Genoss*in, wird mein*e Mitbewohner*in es schwer haben, herauszufinden, für wen jetzt genau Transpistoff vorbeigebracht werden soll. So werde ich selbst schwerer greifbar, für mich und für andere. Nur wenige kennen also alle Seiten von mir, verstärkt durch die multiplen Namen.
Zuletzt geht mit dem Credo „Keine Namen, keine Strukturen“ auch eine Verstärkung von Machtasymmetrien und Hierarchien einher. Nur wer lange genug dabei ist, kennt die Namen der Leute, kann in einem Gespräch klar sagen, wer gemeint ist, kann Kontaktaufgaben übernehmen und mit Schlüsselfiguren kommunizieren. Die Praxis, keine oder viele verschiedene Namen zu nennen, baut eine zwischenmenschliche Distanz auf und erschwert vor allem für frisch in einen Kontext gekommene Personen den Einstieg ins soziale Gefüge. Vielleicht ist an der gesellschaftlich verbreiteten Etikette, sich bei Begrüßung mit dem Namen vorzustellen, doch mehr dran als verstaubte Höflichkeit. Manchmal frage ich mich, ob der ganze Aufwand zur Wahrung der Anonymität wirklich einen reinen Schutz vor Repressionen darstellt oder ob es nicht doch in großen Teilen um ein Gefühl von Geheimniskrämerei und Coolness geht. Andernorts kritisieren wir doch auch den unantastbaren „cool girl/guy“-trope, aber wenn wir selbst die geheimnisvollen, queeren, linksradikalen Aktivist*innen sein können, lassen wir es bleiben?
Zusammenfassung
In den letzten Abschnitten habe ich versucht, ein umfassendes Bild der Namensgebungs- und Namensnutzungspraktiken in der queeren und linksradikalen Szene zu zeichnen. Ich habe mir Mühe gegeben, die Ambivalenzen und die Widersprüche in beiden Bereichen aufzuzeigen. Letztlich hoffe ich, dass ich in diesem Text beispielhaft einfangen konnte, wie ich und viele andere queere, linksradikale Personen mit unseren multiplen Namen umgehen.
In der queeren Szene spielen selbstgewählte Namen eine zentrale Rolle für begonnene oder erfolgreich „abgeschlossene“ Transitionen und Outings. Dead names (i.e. Perso-Namen) sind häufig Dreh und Angelpunkt von Diskriminierung, Existenzverlust und Aufenthalt im closet (vgl. dazu das Versteck bei „Die Epistemologie des Verstecks“ – Eve K. Sedgwick, 1991) und werden daher in vielen Fällen aus den Dokumenten und dem Alltag getilgt. Ein selbstgewählter Name ist in der Regel Teil eines effektiven Selbstempowerments, ein Perso-Name kann zu Verletzungen und zu einem Doppelleben im ungeouteten Setting führen. Durch dead name-Performances entsteht eine 2-in-1-Identität.
In der linksradikalen Szene geht es um Politnamen, die aus Gründen von Strukturschutz und als Antirepressionsstrategie genutzt werden. Temporäre und kontextbezogene Wegwerfnamen erhöhen die Anonymität und damit Ungreifbarkeit um einen wesentlichen Faktor. Dies ist einerseits realer Schutz im Falle von Ermittlungen gegen Personen sowie eine bewusste Absage an die biopolitische Nutzbarmachung von Namen durch Staat und Kapitalismus. Andererseits können dadurch bestehende Hierarchien befeuert und Hürden für ein ebenbürtiges Miteinander aufgestellt werden.
Befinden sich Personen in beiden Welten zugleich – also in der queeren und in der linksradikalen Szene – potenziert sich der psychische und kognitive Mehraufwand, Namen korrekt zu verwenden und Kontexte zu trennen. Es muss bewusst gesagt und gewählt werden, wer welchen Namen kennenlernt. Die Wiederholung des 2-in-1-Moments und das schnelle An- und Ablegen von Namen kann zum Grund für Distanzierung und Entfremdung von eigenen Namen werden. Die Anzahl an Namen und damit auch isoliert existierenden Persönlichkeiten steigt jeweils, wenn Queers in linksradikale Strukturen gehen und vice versa, wodurch sich der emotionale Druck erhöht. Im Rahmen der Antirepressionsarbeit kann es legitim werden, Vertrauten den dead name mitzuteilen, eine Dynamik, die für genderqueere Menschen erst durch den linksradikalen Kontext entsteht. Ein weiteres Spezifikum linksradikaler Queers ist die Selbstverständlichkeit, mit der Namen die Wichtigkeit entzogen wird, neue Namen ausgesucht und erfunden werden. Damit wird der etablierten Trias aus Patriarchat, Staat und Kapital Macht über etwas so hochpersönliches wie dem eigenen Namen entzogen, die eigene Handlungsfähigkeit erweitert und ein selbstbestimmtes Miteinander und ein soziales Gefüge auf Augenhöhe befördert.
Schlusswort: Alerta, queerfeminist Anarchista! (oder so)
Ich habe Spaß daran, viele Namen zugleich zu besitzen, auch, wenn es manchmal anstrengend ist. Ich habe den Bezug zu meinen Namen verloren, doch das ist nicht schlimm, denn ich habe erkannt, dass ich keine Eineindeutigkeit brauche. Genauso unerfassbar und ausdifferenziert wie mein Gender und meine angeblich vergeschlechtlichten Handlungen sollen auch meine Namen sein! Queerness lebt von proaktiven, subversiven bis markerschütternd laut schreienden Aktionen gegen das cis, hetero, weiße, kapitalistische Patriarchat. Und daher sollen auch meine Namen Teil einer queeren Kampfansage an das System und die Verwertungslogik meines Selbst sein!
30. September 2021
1 Anmerkung: Spitznamen bzw. Künstler*innenamen lasse ich aus dieser Betrachtung aus, weil sie entweder keine offiziellen Funktionen erfüllen können bzw. ich keine habe.
2 Gemeint sind Personen, deren selbstgewählter Name nicht mit den Dokumenten übereinstimmt, weil sie bspw. keine Personenständsänderung vorgenommen haben oder es nicht können oder wollen.
3 „Carla“ ist in Deutschland kein eindeutig vergeschlechtlicher Name, weshalb Eltern gezwungen werden, die Schreibweise in „Karla“ zu ändern oder einen eindeutig weiblich konnotierten Vornamen als Zweitnamen zu geben. (Zumindest war dies früher Gang und Gebe, mit etwas Glück hat sich das mittlerweile gelockert.)