Gastbeitrag: Queere und linksradikale Namenspraktiken und ihre Effekte

Im folgenden Gastbeitrag wird es um Namen gehen und wie queere und/oder linksradikale Personen mit ihnen umgehen. Der Text ist ein auf persönlichen Erfahrungen basierender Bericht und soll verstanden werden als ein Nachdenken über die verschiedenen Aspekte von Namen und Namensgebungspraktiken. In gewisser Weise ist der Text ein Beitrag zu verschiedenen Debatten zugleich, aber er ist an keine*n Bestimmte*n gerichtet. Wer Lust hat, kann ihn zum Anlass nehmen, die eigenen Erfahrungen zu reflektieren oder mit anderen zu besprechen.
Der Inhalt wird abschnittsweise erzählt. Hier eine Übersicht von Inhalt und Abschnitten zur besseren Orientierung:

    • Es gibt eine Einleitung (Abschnitt Die Funktionen von Namen).
    • Im ersten Hauptteil geht es um die queeren Besonderheiten (Abschnitte Die Notwendigkeit selbstgewählter Namen und Ambivalenz von Outings und das Beibehalten von dead names).
    • Der zweite Teil fokussiert linksradikale Aspekte (Abschnitte Namen aus dem politischen Aktivismus und Über temporäre Namen und das widerständige Moment darin).
    • Es wird im dritten Teil versucht, beides zusammen zu denken (Abschnitte Die Irrelevanz und Unaufgeregtheit des Ganzen und Aufkommende Probleme und Limitationen).
    • Zum Schluss gibt es eine Zusammenfassung und abschließende Worte (Abschnitte Zusammenfassung und Schlusswort: Alerta, queerfeminist Anarchista! ( oder so )).

Ich habe den Bezug zu meinen Namen verloren

Queere und linksradikale Namenspraktiken und ihre Effekte.

 

Ein Gastbeitrag einer Person von Queering Defaults.
30. September 2021.


Ich habe den Bezug zu meinen Namen verloren.
Ich bin nicht-binär, queer und Teil der linksradikalen Szene. Mein Umfeld, das sich aus sehr unterschiedlichen Kreisen zusammensetzt, hat verschiedene Wissensstände bezüglich meiner eigenen Queerness.
Das Verhältnis, das ich zu meinen Namen habe, ist ein besonderes. Es ist geprägt durch Entfremdung, Veränderung und Selbstermächtigung. Und ich bin überzeugt, dass besonders Menschen, die sich in der queeren, radikalen Linken bewegen, diese Erfahrung teilen.

Die Funktionen von Namen

Welches sind die Funktionen, die ein Name in unserem gesellschaftlichen Kontext erfüllt? Namen sollen zum einen Selbstidentifikation ermöglichen. Du lernst, dich in dem Namen, der für dich genutzt wird, wiederzufinden und baust auf ihm ein Selbstkonzept auf. Zum anderen dient er auch zur Erkennung durch Fremde. Über wen du redest, kannst du besser anhand von Namen verdeutlichen, sodass auch andere wissen, wen du meinst. Namen werden zudem mit bestimmten Eigenschaften assoziiert, etwa einem Geschlecht oder Alter, das üblicherweise den Namen trägt. Es gibt zudem Stereotype wie den „Kevin“, den „Hans-Peter“, die „Karen“ oder die „Jacqueline“ (oft mit dazugehörigen klassistischen oder sexistischen Abwertungen).

In Dokumenten wie Geburtsurkunde oder Personalausweis wird außerdem deine Unverwechselbarkeit festgelegt. Die staatliche, patriarchale und kapitalistische Nutzbarmachung von Namen leitet sich vor allem aus der eineindeutigen Identifizierbarkeit einer Person ab. Wer einen Namen und ein passendes Ausweisdokument besitzt, kann von Staaten erfasst und Wohnsitzen, Arbeitsstellen oder Bankkonten zugeordnet werden. Ein Name inkl. offiziellem Nachweis dessen bedeutet Zugang zu Arbeitsmarkt, ermöglicht Staatenzugehörigkeit, Asylantrag oder Bildung, kann in Intersektion mit Rassismus aber auch Prozesse wie Wohnungssuche erschweren. Hast du kein Dokument, das mit deinem Namen (und exaktem Geburtsdatum) deine Existenz beweist, bist du automatisch staatenlos, nichtexistent, weniger als ein Mensch. Staaten können Namen als biopolitische Angriffspunkte für Machtwirkungen benutzen (vgl. hierfür Foucault’s Theorien).

Ich denke, dass einige dieser etablierten gesellschaftlichen Funktionen, Assoziationen und Nutzbarmachungen in einem linksradikalen, queeren Kontext nicht mehr zutreffen bzw. aktiv abgelehnt werden. Wie es dazu kommt, möchte ich im Folgenden versuchen, zu beschreiben. Ich werde Gefühlen und kontextspezifischen Praktiken auf den Grund gehen und nachzeichnen, wie das Verhältnis radikaler, linker Queers zu ihren Namen entsteht. Beispielhaft werde ich meine persönlichen Beziehungen zu meinen Namen und Kontexten anführen.1

Die Notwendigkeit selbstgewählter Namen

Der Reihe nach:
Ich habe mehrere Namen, die unterschiedlich rezipiert werden und die ich zu verschiedenen Zeitpunkten mit oder ohne eigenes Zutun bekommen habe.
Da wäre einmal mein Geburtsname, also der Name, mit dem ich am längsten gelebt habe, der mir von meinen Eltern gegeben wurde. Dieser Name hat eine Geschichte, meine Familie, einige Arbeitsstellen und die Uni kennen mich darunter. In meinem Fall ist der Geburtsname ein sog. dead name, d.h. ein Name, den queere Personen im Rahmen einer Transition ablegen, weil er u.a. ein falsches Geschlecht impliziert.

Im Gegensatz zu manch anderen trans*, nicht-binären bzw. genderqueeren Personen, habe ich gute Erinnerungen an meinen dead name. Ich mag ihn, trotz einigen schwierigen Gefühlen, die an ihn geknüpft sind. Objektiv betrachtet klingt er schön, vor allem in Kombination mit meinem Nachnamen. Trotzdem brauchte ich von diesem Namen Abstand, denn durch die Zuweisung von Geschlecht und Namen bei der Geburt ist der dead name nahezu untrennbar mit geschlechtsspezifischen Zuschreibungen und Rollenerwartungen verbunden. Für mich war es einfacher, altes Pronomen und Namen zeitgleich abzulegen, um jenen irrtümlicherweise zugeordneten Geschlecht(sspezifischen Erwartungen) zu entkommen und so wählte ich selbstbestimmt einen neuen Namen.
Diesen selbstgewählten Namen nutze ich im privaten Umfeld, z.T. in der Uni und in progressiven Arbeitsstellen. Unter Umständen werde ich ihn eines Tages auch in meinen Dokumenten eintragen lassen.

Ich bin nicht-binär.
Nicht-Binär zu sein bedeutet allem voran, unsichtbar zu sein, weil es Nicht-Binarität im hegemonial zweigeschlechtlichen Patriarchat und in seiner Gesellschaft nicht geben kann. Daher ist es, um zu existieren, eine Grundvorraussetzung, entgegen der etablierten Zweigeschlechtlichkeit wahrnehmbar zu sein und stets auf die eigene Existenz hinzuweisen. Du kannst dir im Patriarchat Gehör verschaffen, wenn du mit einem „Knall“ etwas änderst, indem du zum Beispiel sagst: Mein alter, bei der Geburt zugewiesene, Name ist jetzt ein dead name, ich habe einen neuen Namen und andere Pronomen, respektiere das bitte!

Andere Namen und Pronomen zu wählen sind fester Teil queerer Überlebens- und Existenzrechtspraxis. Entsprechend machen auch die meisten Queers, die keine cis Personen sind, einen solchen Prozess durch.
Einen anderen Namen zu wählen ist ein empowernder Schritt, weil er reale Veränderung schafft und Selbstermächtigung bedeutet. Doch er bringt auch die Verletzlichkeit und Widersprüchlichkeit von Outings mit sich. Nun können andere etwas „neues“ falsch machen, indem sie bspw. deinen dead name oder falsche Pronomen benutzen. Das ist anders, als wenn jemand vergisst, ob du „Anne“ oder „Anna“ heißt, da letztlich die selbe Person mit dem gleichen Geschlecht gemeint ist. Werden trans*, nicht-binäre oder inter* Personen mit dead names angesprochen, spricht es ihnen zugleich ihr Geschlecht und ihre Existenz ab. Manche Queers schmerzt es umso mehr, wenn sie trotz ausdrücklicher Ankündigung und Vorstellung mit gewünschten Pronomen misgendert werden.

Ambivalenz von Outings und das Beibehalten von dead names

Mit einem ersten offiziellen Outing inklusive Namensverkündung ist es jedoch nicht vorbei. Es wird immer Menschen oder Behörden geben, die noch den dead name kennen. Das führt auch zu der sehr spezifischen, queeren Erfahrung, regelmäßig in ein Umfeld zurück zu kehren, in dem Menschen dich anders abgespeichert haben.

Bei mir persönlich bedeutet das zum Beispiel, dass ich, wenn ich nach Hause zu meiner Familie fahre, zurückkehre in ein Leben, das unter meinem dead name existiert. Ich bin nicht bei meiner Familie geoutet, das heißt, sie kennen meinen selbstgewählten Namen nicht. Komme ich zu ihnen, nutzen sie für mich eine (vergeschlechtlichte) Bezeichnung, die nicht aktuell ist. Mein Gehirn registriert diesen veralteten Begriff und öffnet verstaubte Schubladen, in denen mein Leben und meine Selbstidentifikation von vor einigen Jahren stecken. Es ist jedes Mal wieder irritierend, in diese alten Boxen abzutauchen, denn ich bin ja längst nicht mehr die Person, die in solchen Momenten aus den Schubladen herausgekramt wird, sondern bin gewachsen und habe mich verändert. Es ist komisch, sich selbst dabei zu zu beobachten, wie das aktuelle Ich beim Betreten dieses Orts, dieser familiären oder behördlichen Situation, wie automatisiert den dead name wie eine alte Jacke aus dem Schrank holt und überstülpt. Diese olle dead name-Jacke, die eigentlich für jemand anderes, nämlich eine Person aus der Vergangenheit, reserviert ist… Ich fremdele vor mir selbst, während ich in diesem falschen, unpassenden Kleidungsstück eine Rolle spiele und so tue, als ob ich noch eine für meinen Alltag relevante Verbindung zu diesem dead name habe.

Diese dead name-Performance ist ein mentaler Spagat zwischen Aktualität, Vergangenheit, Lüge und Verstecken. Das Merkwürdigste daran ist jedoch, dass ich diese Performance so häufig durchführe, dass sie unbestreitbar Teil meiner Lebensrealität ist. Ich kann mich in solchen Momenten nicht vollständig von der dead name-Performance abgrenzen, erstens, weil es mal meine eigene Lebensrealität war und zweitens, weil ich in dieser dead name-Rolle neue Erinnerungen schaffe, die nicht der Vergangenheit angehören. Es hat etwas von einer „2-in-1-Identität“, im Sinne des gleichzeitigen Erlebens zweier verschiedener Personen in der selben Person. Dies ist meiner Ansicht nach vor allem eine Erfahrung, die (gender)queere Personen machen.

Auch für befreundete Personen ist es mitunter unangenehm, meinen dead name zu kennen. Sie erfahren auf gewisse Weise selbst diesen Widerspruch meiner 2-in-1-Identität. Umso konfliktreicher wird es, wenn sie durch Besuche zu Hause, Behördengänge oder Annahme von Paketen gezwungen werden, den dead name sogar aktiv zu gebrauchen und quasi mit Erlaubnis meine heutige Existenz dadurch zu leugnen, dass sie den falschen Namen verwenden sollen. Vor allem befreundete nicht-cis Personen bringt dies in eine schwierige Situation, da sie nun eine Information über das „alte, tote“ Leben von mir haben, die sie nicht wissen wollten, und weil sie mitunter an den eigenen, schmerzvollen Prozess erinnert werden.

Viele Queers sagen, dass ein Outing Besserung bringt. Daran glaube ich auch, doch ich stehe vehement dafür ein, dass sich Zeit gelassen werden kann und Outings persönliche Entscheidungen von Menschen sind. Dass ich mich bis jetzt noch nicht dazu entschieden habe, meinen dead name „auszulöschen“, indem ich der Familie Bescheid gebe und die Personalien ändern lasse, ist einerseits belastend, andererseits möchte ich diese Entscheidung verteidigen, weil ich mich nicht dazu drängen lassen möchte, es ihnen zu erzählen. Ich will warten, bis ich bereit bin.

Doch trotzdem nagt an mir die Scham, das Outing „nicht hinter mich gebracht zu haben“ und ich höre die Stimmen, wie sie mir meine Nicht-Binarität und Queerness absprechen und sie zischelnd sagen, dass ich in der Queerness nur zu Besuch sei, weil ich es „nicht komplett durchziehen“ würde. „Komplett durchziehen“ bedeutet dann eben auch, „offiziell“ einen anderen Namen anzunehmen. Mit der Erwartung, sich zu Outen, geht auch die Erwartung einher, den dead name aus Standesämtern zu tilgen und die Person, die auf diesen Namen reagierte, hinter sich zu lassen. Zum jetzigen Stand habe ich das nicht in allen Lebensbereichen getan und erfülle somit einige Normen der queeren Szene nicht. Stattdessen behalte ich also den dead name und die 2-in-1-Identität noch etwas an meiner Seite.

Namen aus dem politischen Aktivismus

Als ob es nicht schon kompliziert genug wäre, zwei parallele, mal tote, mal lebendige Identitäten zu haben, die verschieden bezeichnet werden und doch zusammengehören, gibt es in meinem Leben auch noch die Namen, die ich durch politischen Aktivismus bekommen habe.

In der radikalen Linken lohnt es sich, den Namen, der auf dem Personalausweis steht, um jeden Preis zu verstecken. Kennst du Menschen, die aus welchen Gründen auch immer ins Radar der Strafverfolgungsbehörden kommen, kann es dir passieren, dass die Polizei auch ein Interesse daran hat, herauszufinden, wer du bist. Repressionen aufgrund von politischem Aktivismus zu entgehen wird einfacher, wenn eigentlich keine*r so richtig weiß, wie du heißt und dich und deine Personalien damit nicht gegenüber der Polizei ausplaudern kann. Beweggründe für einen neuen, politikspezifischen Namen sind schützende Anonymität, Strategien gegen die Kriminalisierung von Antifaschismus und die Vermeidung von Strafprozessen.
Also legst du dir mit Beginn des antifaschistischen Aktivismus in der Regel ein „Szene“-Pseudonym zu. Dieser wird mehr als ein Spitzname, da er täglich und so intensiv genutzt wird, dass er dein richtiger Name wird. Nur enge Vertraute, die mit dir nach einer Blockade potentiell in die Gefangenensammelstellen wandern könnten, kennen auch deinen Perso-Namen, um dich gegenüber Anwält*innen oder Ermittlungsausschuss identifizieren zu können und in Gewahrsam der Polizei erkennen und unterstützen zu können.

Hier liegen Parallelen zur spezifisch queeren Namens-Realität: Der Perso-Name zeigt im aktivistischen Kontext ähnliche Eigenschaften – er wird verschwiegen und ist nur für Staat, Behörden und uneingeweihte Angehörige einsehbar. Das Szenepseudonym ist in den meisten Fällen ebenfalls selbstgewählt. Für deine Mit-Aktivist*innen kann das Wissen um deinen Perso-Namen bedeuten, sensible Informationen von dir zu haben, die sie gar nicht wollten. Der Perso-Name steht ebenso wie der dead name für eine andere, für sie irrelevante und unerreichbare Realität und ein ihnen sonst unbekannter Aspekt deines Lebens. In meinem Fall verdoppelt sich dieser Effekt: Menschen können nicht nur meinen selbstgewählten Namen „entdecken“, der das ist, was bei anderen der Perso-Name ist, sondern zusätzlich noch meinen dead name. Es ist wie eine weitere Identitätsebene, die ich nur habe, weil ich queer bin.

Doch das Wissen um Perso-Namen kann auch anders bewertet werden, vor allem in engen Bezugsgruppen. Eine befreundete queere, linksradikale Person berichtete mir von einem deutlichen Unterschied im Umgang mit dead names und Perso-Namen. Wenn diese Person den Perso-Namen einer*s Genoss*in kennt, so gibt ihr das auch das Gefühl, den*die Genoss*in besser als andere zu kennen, weil sie „eingeweiht“ genug ist, um eine so sensible Info zu bekommen. Der soziale Wert des Namens steigert sich.
Bezüglich genderqueeren Personen2 bleibt es für meine*n Gesprächspartner*in dabei, dass der Perso-Name bzw. dead name eine unerwünschte Information ist. Sind diese genderqueeren Personen hingegen Teil der engen Bezugsgruppe ist es in Ordnung, den Perso-Namen, d.h. den dead name zu wissen, weil die Antirepressionsmaßnahmen in gewisser Weise queere Belange aushebeln. Die Möglichkeit, ein*e Genoss*in im Falle einer Verhaftung zu unterstützen, wiegt hier mehr. Im aktivistischen Kontext erfolgt damit eine Verschiebung des queerspezifischen Umgangs und Framings von Geburtsnamen.

Über temporäre Namen und das widerständige Moment darin

Doch der Aktivismus bringt noch mehr Namen mit sich: Für einzelne Aktionen legt man sich Wegwerfnamen zu, mit denen man sich auf der Demo rufen kann, wenn’s brenzlich wird. Wegwerfnamen gibt es auch für länger geplante Aktionen, die nach einigen Monaten wieder verfallen. Und auch eine Art „Nicht-Namen“ gibt es: Nämlich die bewusste Auslassung einer Selbstbezeichnung. Unter dem Motto „Keine Namen, keine Strukturen“ kann es durchaus sinnvoll sein, sich in einer neuen Aktionsgruppe nicht einmal mehr namentlich vorzustellen. Befragt bspw. die Polizei dich nach den Leuten, mit denen du unterwegs warst und du hast nicht mal einen Namen zu ihnen, tja, dann wird wohl auch keine*r identifiziert werden können.

Es ist innerhalb der radikalen Linken etwas ganz normales, solche temporären Bezeichnungen für sich auswendig zu lernen. Codewörter ersetzen die Funktion von Namen und Namen verlieren dadurch an Wichtigkeit. Es bringt eine gewisse Freiheit mit sich, zu lernen, dass die scheinbar unzerrüttbare Eindeutigkeit und Unveränderlichkeit von Namen völlig haltlos ist. Für Gesellschaft, Patriarchat und Staat sind Personalausweis und Name unendlich nützliche Tools, da sie durch sie Macht gegenüber den Bewohner*innen eines mit Grenzen definierten Gebiets ausüben können. Strafverfolgungsbehörden nutzen Namen, um die Wirkungen von Gesetzen und Justiz real werden zu lassen. Ständig betonen und wiederholen Staat und Kapital, dass Namen wichtig und höchst individuelle Marker für Personen (oder in ihren Augen wahlweise „Straftäter*innen“ oder „Angehörige der Nation“) sind.

Die radikale Linke lehrte mich: Das ist Quatsch, da musst du nicht mitmachen. Die Vorstellung, einen Ausweis haben zu müssen, der dich für andere eindeutig identifizierbar macht, ist eine, die aus staatlicher Kontrolle hervorgegangen ist. In unseren persönlichen Beziehungen geht es um viel mehr als dieses Wort, das mir und dir angeheftet wurde. Du kannst auch mit Menschen befreundet sein, ohne jemals ihren „echten“ Perso-Namen gesehen zu haben, das tut unserer Verbundenheit und Solidarität keinen Abbruch. Die queere Praxis zeigte mir zusätzlich: der vergeschlechtlichte Name, den dir das Patriarchat gegeben hat, ist nichts, wofür du dich aktiv entschieden hast und daher kannst du ihn auch getrost ablegen (selbst, wenn dies für deine Eltern, die deinen Namen ausgesucht haben, erstmal eine grundlegende Veränderung ist).
Beides ist Teil von Selbstermächtigungsstrategien. Namen ihre Wichtigkeit abzusprechen, ist, wenn ich das so sagen darf, in gewisser Weise ein revolutionärer Akt und ein Moment des Widerstands gegen patriarchale und staatliche Normen.
Schreit der Staat üblicherweise „Identitätsdiebstahl, Betrug, vorsätzliche Täuschung!“, wenn du dir einen anderen Namen nimmst, so antwortet die radikale Linke: „Wieso denn nicht? So schütze ich mich vor euch.“ Schreit das Standesamt beim Wechsel des Namens „Krankheit, Transsexualismus, Variante der Geschlechtsentwicklung!“, so antworten die Queers: „Eure Engstirnigkeit ist nicht mein Problem, ich weiß am besten wer ich bin.“

Die Irrelevanz und Unaufgeregtheit des Ganzen

Trotzdem fühlt sich das Ablegen von Namen selten heroisch oder revolutionär an. Vielmehr hat sich die Praxis, neue Namen zu wählen oder mehrere gleichzeitig zu haben zu einem alltäglichen Umstand, der nur noch selten irritiert, normalisiert. Es ist Teil queerer und linksradikaler Realität, auf personifizierte Bezeichnungen (sprich: unveränderliche Namen) zu scheißen. So wird dieser in den Augen der gesellschaftlichen Aufsichtsorgane aufmüpfig gelabelte Akt zu einem unaufgeregten Alltagselement.

Ein gutes Beispiel für diese selbstverständliche Normalität ist folgende Situation: Vor kurzem saß ich mit befreundeten, großteilig queeren Aktivist*innen in der Küche zusammen. Nach Ende einer Aktion, auf der wir temporäre Wegwerfnamen für einander nutzten, stellten wir die Frage, ob jetzt „alltägliche Namen“ genutzt werden können. Daraufhin sprachen wir einander entweder mit dem Szenenamen oder mit Perso-Namen an, je nachdem, ob wir uns in einem Polit- oder Privatrahmen zuerst kennengelernt hatten. Für die nicht-cis Personen unter uns wurde natürlich der selbstgewählte statt des Perso-Namens verwendet. Eine der anwesenden Personen begann dann, uns nach Namensvorschlägen zu fragen, es sollte ein neuer Szenename her, der alte sei schon zu lange genutzt. Wir brainstormten gemeinsam, entsprechend des Genders der Person sollte es ein geschlechtsneutral kodierter Name sein. Auch eine weitere Person bemerkte, dass sie ihren Namen satt habe, er sei schon so lange in Benutzung und könne mal erneuert werden. Wir sprachen auch über Namen in der queeren Szene, für die sich sehr viele entscheiden (etwa „Noah“, „Alex“ oder Varianten von „Finn“), suchten im Netz wie werdende Eltern nach „beliebten Babynamen“ und parodierten so tradierte Namensgebungsprozesse. Wir spielten mit Worten und Buchstabenkombinationen und interessierten uns dabei nicht dafür, ob es einen Namen wirklich gibt und irgendwer ihn offiziell anerkennt. Im Gegensatz zu Geburtsurkunden und ihren Reglementierungen war es uns egal, ob der Name mit den Geschlecht des Babys übereinstimmte und keine*r ließ sich einen geschlechtsverdeutlichenden Zweitnamen aufdrängen, wie es etwa für die „Carla Emilia“s dieser Welt der Fall ist.3 Zuletzt tauschten wir uns darüber aus, ob deutsche Aktivist*innen sich ausschließlich deutsche Namen geben sollten, um keine Exotisierung bzw. kulturelle Aneignung zu betreiben.

In dieser Beispielssituation ist gut zu erkennen, welcher Umgang mit Namen Normalität in der radikalen Linken und queeren Szene erlangt hat. Ohne, dass es zu Irritationen oder Nachfragen kommt, wird klar zwischen temporären und dauerhaften Namen getrennt, es wird gemeinsam eine Umbenennung angegangen und auf einer Metaebene reflektiert, was hinter Namen steckt. Dieser Umgang zeigt, wie irrelevant es in diesem Kontext geworden ist, eineindeutige Identifikation zu erreichen und wie es ohne große Aufregung abgelehnt wird, nur einen einzigen, für immer bestehenden Namen zu haben. Namen sind Schall und Rauch, Namen kannst du wechseln wie Klamotten, wenn du keine Lust mehr darauf hast, und zwar ohne, dass dies in irgendeiner Form anstößig wäre.

Aufkommende Probleme und Limitationen

Was sind nun jedoch die Folgen und Limitationen dieser Praxis?
Völlig spurlos geht die Vielfalt und Gespaltenheit der Namen und Identitäten(bezeichnungen) nicht an mir vorbei. Abgesehen von empowernden Schritten wie dem Verwenden eines selbstgewählten Namens hat das häufige An- und Ablegen dieses Identifiers zu einer Distanzierung von jedem einzelnen Namen geführt: Ich habe den Bezug zu meinen Namen verloren.

Ich muss mir etliche Namen merken, einige davon nur für sehr kurze Zeiträume, und ich muss adäquat darauf reagieren. Verpasse ich, dass ich angesprochen werde, entgehen mir Informationen, die an mich gerichtet waren, antworte ich verlangsamt, führt dies zu Verwirrung auf Seiten der Menschen, die mich angesprochen haben. Zu den einzelnen Namen muss ich mir zusätzlich auch noch merken, wer den jeweiligen Namen kennt und in welcher Aktion ich wie genannt werde. Es kann also vorkommen, dass ich auf eine Mail mal mit einem falschen Pseudonym antworte und es so zu Missverständnissen und Gefährdung meiner Anonymität oder einem unbeabsichtigten Outing kommt.

Manchmal dauert es eine ganze Weile, bis ich eine Verbindung zu einem Namen aufbaue, und im Prozess, sich an ein Pseudonym zu gewöhnen, habe ich nur eine auswendiggelernte, temporär und kontextuell begrenzte Funktion dazu im Kopf. Schöne Gefühle, wie etwa die ganz besondere, körperliche Resonanz, die ich früher bekam, wenn eine Person für die ich etwas empfand meinen Namen aussprach, erlebe ich mittlerweile viel seltener. Weil ich nicht weit genug verinnerlicht habe, dass ich gemeint bin, weil immer eine bewusste Denkleistung dazwischen liegt. Schreibe ich Texte, fühlt es sich wie Unterschreiben für wen anderes an, wenn ich meinen Namen darunter setze. Von Stolz keine Rede, eher Distanz und Schwierigkeit, das Label unter der eigenen Arbeit als mein eigenes zu erkennen.

Die Trennung meiner Namen führt letzten Endes auch dazu, dass sich Teile meines Lebens weit voneinander entfernen. Das Leben zu Hause unter meinem dead name ist sowieso wie eingekapselt und in Eis konserviert bis zum nächsten Besuch, doch auch privates Leben und Polit-Persona sind kaum unter einen emotionalen Hut zu bringen. Manchmal erinnert es an ein Undercover-Dasein. Ich existiere eher punktuell und kontextabhängig, während ich penibel darauf Acht gebe, nur bestimmten Leuten bestimmte Namen zu nennen. Das zeigt sich auch, wenn über mich gesprochen wird. Wer meinen Szenenamen kennt, weiß oft nicht, was ich letzten Sommer gemacht habe und klingelt an meiner Tür ein*e Genoss*in, wird mein*e Mitbewohner*in es schwer haben, herauszufinden, für wen jetzt genau Transpistoff vorbeigebracht werden soll. So werde ich selbst schwerer greifbar, für mich und für andere. Nur wenige kennen also alle Seiten von mir, verstärkt durch die multiplen Namen.

Zuletzt geht mit dem Credo „Keine Namen, keine Strukturen“ auch eine Verstärkung von Machtasymmetrien und Hierarchien einher. Nur wer lange genug dabei ist, kennt die Namen der Leute, kann in einem Gespräch klar sagen, wer gemeint ist, kann Kontaktaufgaben übernehmen und mit Schlüsselfiguren kommunizieren. Die Praxis, keine oder viele verschiedene Namen zu nennen, baut eine zwischenmenschliche Distanz auf und erschwert vor allem für frisch in einen Kontext gekommene Personen den Einstieg ins soziale Gefüge. Vielleicht ist an der gesellschaftlich verbreiteten Etikette, sich bei Begrüßung mit dem Namen vorzustellen, doch mehr dran als verstaubte Höflichkeit. Manchmal frage ich mich, ob der ganze Aufwand zur Wahrung der Anonymität wirklich einen reinen Schutz vor Repressionen darstellt oder ob es nicht doch in großen Teilen um ein Gefühl von Geheimniskrämerei und Coolness geht. Andernorts kritisieren wir doch auch den unantastbaren „cool girl/guy“-trope, aber wenn wir selbst die geheimnisvollen, queeren, linksradikalen Aktivist*innen sein können, lassen wir es bleiben?

Zusammenfassung

In den letzten Abschnitten habe ich versucht, ein umfassendes Bild der Namensgebungs- und Namensnutzungspraktiken in der queeren und linksradikalen Szene zu zeichnen. Ich habe mir Mühe gegeben, die Ambivalenzen und die Widersprüche in beiden Bereichen aufzuzeigen. Letztlich hoffe ich, dass ich in diesem Text beispielhaft einfangen konnte, wie ich und viele andere queere, linksradikale Personen mit unseren multiplen Namen umgehen.

In der queeren Szene spielen selbstgewählte Namen eine zentrale Rolle für begonnene oder erfolgreich „abgeschlossene“ Transitionen und Outings. Dead names (i.e. Perso-Namen) sind häufig Dreh und Angelpunkt von Diskriminierung, Existenzverlust und Aufenthalt im closet (vgl. dazu das Versteck bei „Die Epistemologie des Verstecks“ – Eve K. Sedgwick, 1991) und werden daher in vielen Fällen aus den Dokumenten und dem Alltag getilgt. Ein selbstgewählter Name ist in der Regel Teil eines effektiven Selbstempowerments, ein Perso-Name kann zu Verletzungen und zu einem Doppelleben im ungeouteten Setting führen. Durch dead name-Performances entsteht eine 2-in-1-Identität.

In der linksradikalen Szene geht es um Politnamen, die aus Gründen von Strukturschutz und als Antirepressionsstrategie genutzt werden. Temporäre und kontextbezogene Wegwerfnamen erhöhen die Anonymität und damit Ungreifbarkeit um einen wesentlichen Faktor. Dies ist einerseits realer Schutz im Falle von Ermittlungen gegen Personen sowie eine bewusste Absage an die biopolitische Nutzbarmachung von Namen durch Staat und Kapitalismus. Andererseits können dadurch bestehende Hierarchien befeuert und Hürden für ein ebenbürtiges Miteinander aufgestellt werden.

Befinden sich Personen in beiden Welten zugleich – also in der queeren und in der linksradikalen Szene – potenziert sich der psychische und kognitive Mehraufwand, Namen korrekt zu verwenden und Kontexte zu trennen. Es muss bewusst gesagt und gewählt werden, wer welchen Namen kennenlernt. Die Wiederholung des 2-in-1-Moments und das schnelle An- und Ablegen von Namen kann zum Grund für Distanzierung und Entfremdung von eigenen Namen werden. Die Anzahl an Namen und damit auch isoliert existierenden Persönlichkeiten steigt jeweils, wenn Queers in linksradikale Strukturen gehen und vice versa, wodurch sich der emotionale Druck erhöht. Im Rahmen der Antirepressionsarbeit kann es legitim werden, Vertrauten den dead name mitzuteilen, eine Dynamik, die für genderqueere Menschen erst durch den linksradikalen Kontext entsteht. Ein weiteres Spezifikum linksradikaler Queers ist die Selbstverständlichkeit, mit der Namen die Wichtigkeit entzogen wird, neue Namen ausgesucht und erfunden werden. Damit wird der etablierten Trias aus Patriarchat, Staat und Kapital Macht über etwas so hochpersönliches wie dem eigenen Namen entzogen, die eigene Handlungsfähigkeit erweitert und ein selbstbestimmtes Miteinander und ein soziales Gefüge auf Augenhöhe befördert.

Schlusswort: Alerta, queerfeminist Anarchista! (oder so)

Ich habe Spaß daran, viele Namen zugleich zu besitzen, auch, wenn es manchmal anstrengend ist. Ich habe den Bezug zu meinen Namen verloren, doch das ist nicht schlimm, denn ich habe erkannt, dass ich keine Eineindeutigkeit brauche. Genauso unerfassbar und ausdifferenziert wie mein Gender und meine angeblich vergeschlechtlichten Handlungen sollen auch meine Namen sein! Queerness lebt von proaktiven, subversiven bis markerschütternd laut schreienden Aktionen gegen das cis, hetero, weiße, kapitalistische Patriarchat. Und daher sollen auch meine Namen Teil einer queeren Kampfansage an das System und die Verwertungslogik meines Selbst sein!

30. September 2021


1   Anmerkung: Spitznamen bzw. Künstler*innenamen lasse ich aus dieser Betrachtung aus, weil sie entweder keine offiziellen Funktionen erfüllen können bzw. ich keine habe.

2   Gemeint sind Personen, deren selbstgewählter Name nicht mit den Dokumenten übereinstimmt, weil sie bspw. keine Personenständsänderung vorgenommen haben oder es nicht können oder wollen.

3   „Carla“ ist in Deutschland kein eindeutig vergeschlechtlicher Name, weshalb Eltern gezwungen werden, die Schreibweise in „Karla“ zu ändern oder einen eindeutig weiblich konnotierten Vornamen als Zweitnamen zu geben. (Zumindest war dies früher Gang und Gebe, mit etwas Glück hat sich das mittlerweile gelockert.)

8. März ’21

Redebeitrag vom 8. März 2021 / speech from 8th March 2021 (Engl. below):


Deutsch:

Sexualisierte Gewalt und Übergriffe in queeren Räumen

Hallo, wir sind von Queering Defaults. Wir sind eine queer-intersektionale Aktionsgruppe, die sich im Juni 2020 gegründet hat. Im folgenden Redebeitrag wird es um sexualisierte Gewalt und Täter:innenschaft in queeren Räumen gehen. Wir sprechen hiermit eine Trigger Warnung aus. Es wird allerdings eher ein Nachdenken über das Thema sein. Wir werden keine Handlungen bildlich beschreiben.

Der Transparenz halber: Wir als Queering Defaults sind nicht von selbst darauf gekommen, das Thema sexualisierte Gewalt in queeren Räumen zu behandeln. Im Juni 2020, als wir uns gegründet haben, ging es uns darum, den CSD, wie er derzeit in Leipzig stattfindet, zu kritisieren und unsere eigenen intersektionalen Veranstaltungen für die Community zu machen.
Auch in unserer Gruppe gab und gibt es Betroffene der Monis Rache Vorfälle. Auch in unserer Gruppe gab und gibt es Leute, die im Leipziger Osten wohnen, wo in letzter Zeit mehrere Täter benannt und Übergriffe öffentlich gemacht worden.
Sexualisierte Gewalt in der radikalen Linken ist für uns nicht fremd. Und auch wir haben sowohl in sexuellen Kontexten als auch im Alltag sexualisierte Gewalt in den verschiedensten Formen erlebt.
Das Thema ist also eigentlich präsent. Trotzdem stand es lange nicht auf unserem Plan.

Uns hat im Herbst letzten Jahres eine Anfrage von Menschen aus der Community erreicht, ob wir uns damit beschäftigen könnten, ob wir vielleicht sogar eine Veranstaltung organisieren wollen würden. Vor allem in der queeren Party- und Veranstaltungsszene in Leipzig – und mit Sicherheit auch anderswo – käme sexualisierte Gewalt vor. Der Fokus darauf fehle allerdings, es gebe eine Art konsensuelles Schweigen im Bezug auf queere Räume.
Wir begannen, uns im Rahmen des Plenums auszutauschen, Begrifflichkeiten zu klären und Erfahrungen zu teilen. Zu Beginn dachten viele von uns, dass sie mit sexualisierter Gewalt eigentlich recht wenig Berührungspunkte haben. Einige konnten benennen, dass sie Übergriffigkeiten erlebt hatten. Doch es fehlte oft die Kraft, mehr darüber zu sprechen. Das ist mehr als verständlich und Wunden nicht aufreißen zu wollen, völlig in Ordnung.
Im Laufe der Wochen erarbeiteten wir uns verschiedene Begriffe. Konsens, Zustimmungsprinzip, Definitionsmacht, Awareness… und weitere. Währenddessen fielen uns immer mehr Punkte ein, in denen wir doch betroffen waren. Vermeintlich kleine Übergriffe kamen wieder ins Gedächtnis, auch sexuelle Handlungen, zu denen wir im Nachhinein doch lieber “Nein” gesagt hätten.

Unsere bis jetzt wichtigste Erkenntnis war jedoch, dass wir selbst Täter:innen waren oder noch werden könnten. Die Vorstellung, dass nur cis Männer Täter sein können, ist einfach Quatsch. Sexualisierte Gewalt kann in lesbischen Romanzen auftreten, es gibt sie in bisexuellen One-Night-Stands, zwischen trans* Personen in Langzeitbeziehungen, auf Sex-Parties und auch zwischen schwulen cis Männern.
Eine Betrachtung von sexualisierter Gewalt darf sich nicht nur mit heterosexuellen Beziehungen zwischen cis Personen beschäftigen und es darf nicht nur darum gehen, cis Männer als Täter zu indentifizieren und out zu callen. Sonst reproduziert das Normen, in Bezug auf Sex, Gender, Beziehungsmodelle und Rollenerwartungen. Mit Verlaub, wir schätzen eure Arbeit zum Thema, aber bitte, bitte vergesst in eurer Analyse nicht die queeren Menschen. Das Patriarchat versteckt sich überall und mit ihm auch sexualisierte Gewalt. Es wäre verkürzt, zu behaupten, dass eine Betroffene Person nie Täter:in werden könnte. Es tut vielleicht weh, das zu hören, aber natürlich kann ich als Betroffene sexualisierter Gewalt selbst bei einer anderen – oder sogar der gleichen Person – einen Übergriff begehen. Selbst, wenn ich das nicht möchte und auch dann, wenn wir ausführlich über Konsens gesprochen haben.
Wir müssen uns von der Vorstellung verabschieden, dass es ausreicht, Täter:innen zu identifizieren und zu outen. Schließlich geht es danach weiter. Wir brauchen funktionierende Konzepte dafür, mit Täter:innen zu arbeiten, die Wünsche von Betroffenen im Verlauf der Zeit umzusetzen und es müssen Strukturen her, die langfristig dieser Form von Gewalt vorbeugen können, die aber auch in Akutsituationen oder sogar noch Jahre nach Übergriffen funktionieren.
Noch mehr, als es im letzten Jahr in Leipzig passiert ist, brauchen wir einen öffentlichen Diskurs zum Thema, der alle etwas angeht. Wir müssen den Status quo überdenken.

Und was hat das alles jetzt mit queeren Räumen zu tun?, fragt ihr euch vielleicht. Nun, lasst uns euch ein paar Beispiele und Gedankenfäden geben, auf die wir gestoßen sind. Wir sind nur eine kleine Gruppe und haben keine Ressourcen, empirische Studien zu machen. Deswegen hier eher der Versuch, Problembaustellen zu benennen. Wir selbst haben auch noch keine Antworten auf alles.

Eine lesbische cis Frau ist in einer Langzeitbeziehung mit einer anderen cis Lesbe. Es läuft toll, sie haben endlich mal Ruhe vor dem Patriarchat. Viele Monate ist der Sex cool, über Übergriffigkeit muss sich keine Gedanken gemacht werden, Konsens haben sie ja verstanden. Nach einem halben Jahr eröffnet die eine Person allerdings ihrer Partnerin, dass es durchaus Situationen gab, in denen sie sich zum Sex gedrängt gefühlt hat, wo sie im Nachhinein lieber “Nein” gesagt hätte. Und jetzt?

Eine trans* Person hat sich geoutet. Endlich fangen Leute an, sie bei ihrem richtigen Namen zu nennen. Sie lädt sich tinder runter, hat Bock, in der neuen Stadt ein paar Menschen kennenzulernen, vielleicht ist ja auch ein cuter Flirt dabei? Schnell wird klar, dass sich manche Menschen nur melden, weil sie Bock haben, eine trans* Person zu daten, am besten noch vor Operationen oder Hormonen. Solche Leute sind Chaser:innen. Auf Tinder hat die Person jetzt gar keinen Bock mehr, aber auch im real life wird sie den Gedanken nicht mehr los, nur für ihre Genderidentity und ihren Körper begehrt zu werden. Und jetzt?

Zwei Menschen, die keine cis Männer sind, sind schon lange in einander verknallt. Sie knutschen viel und das ist cool. Ein Mensch würde gerne Sex haben, der andere Mensch sagt nein, auch, wenn es schwer fällt. Das Thema mit einander schlafen begleitet sie viele Monate. Der zweite Mensch wird traurig, denn er hatte noch nie Sex. Gleichzeitig aber ist das Begehren da und mit jeder Berührung, jedem Versuch, etwas “zu starten” begleitet den Menschen auch die Angst, einen Übergriff zu begehen. Intimität wird durch diese Mischung aus Erwartungen und Bedürfnissen und dem Versuch, keine Grenzen zu überschreiten, zur Qual. Erst später eröffnet eine Person, dass sie vermutet, asexuell zu sein. Nicht miteinander geschlafen zu haben ergibt viel Sinn, war gut für beide Beteiligten. Trotzdem bleibt die antrainierte Angst, mit jeder Bewegung Grenzen zu überschreiten. Auch zukünftige Romanzen werden dadurch nicht einfacher. Und jetzt?

Eine schwule Person ist viel auf Grindr und Tinder. Körperlichkeit ist ihr wichtig, Menschen kennenlernen – wenn auch nur für kurze Sexdates – macht Spaß. Im Laufe der Zeit begegnet der Person allerdings häufiger das Gefühl, nur ein Körper zu sein, der Nähe spendet und auch das Gefühl, dass es gelegentlich vorausgesetzt wird, zum Sex bereit zu sein. Immerhin habe man sich auf Grindr kennengelernt. Einerseits sind one night stands der Person ganz recht, andererseits ist es manchmal auch ein scheiß Gefühl. Die eigenen Bedürfnisse und die Erwartungshaltung, die durch die App und auch spezifisch durch schwule Kontexte erzeugt wird, zu navigieren, ist gar nicht so einfach. Und jetzt?

Eine Sexparty soll veranstaltet werden. Alle freuen sich darauf, dass in ihrem Kaff endlich mal ein queeres Event geht. Es haben sich sogar Menschen zum Putzen gefunden. Jetzt aber kommt die Frage auf, wie radikaler Konsens durchgesetzt werden kann. Wie allen Menschen klar machen, dass es Sex nur nach einem verbalen “Ja” geben soll? Wie verlässlich ist eigentlich der Konsens auf einer Party, bei der auch Drogen und Substanzkonsum eine wichtige Rolle spielen werden? Die Awareness-Crew ist hin und her gerissen zwischen dem Wunsch, einen Begegnungsort zu schaffen und der Herausforderung, sexualisierte Gewalt zu vermeiden. Und jetzt?

Auch Techno-Parties und Open Airs gibt es. Das ist cool, weil sie für alle Leute offen sind, aber die Queers sich untereinander leicht erkennen. Klamotten, Community, Tanzstil – it’s easy, you know. Gerne kommen sich die Menschen auch sexuell näher. Einige von ihnen sind dabei allerdings nicht so konsequent, wenn es um Konsens geht. Es wird nach sexuellen Gefälligkeiten gefragt. Im Buschfunk häufen sich die Berichte über beschissene Erfahrungen mit einer szenebekannten Person. Der fragliche Mensch ist wichtig für die queere Community und hat viel für die lokale Szene getan und genießt daher zurecht Respekt. Die Betroffenen wissen nicht, ob sie das Thema ansprechen dürfen. Mitwissende zernagt die Frage, wie viel an den Berichten dran ist, ob sie die selbst ohnehin schon marginalisierte Person out-callen dürfen und ob sie nicht dadurch selbst aktiv Täter:innenschutz betreiben. Das Problem wird aufgeschoben. Und jetzt?

Okay.. Nicht okay.. Wie viele Machtdynamiken konntet ihr zählen? Was waren die Gründe, Täter:in zu werden? Hat es wirklich so eine große Rolle gespielt, cis männlich zu sein?
Wir denken: Nein.
Es ist nicht zu vernachlässigen, dass straighte cis Männlichkeit im Patriarchat strukturell die machtvollste Position ist. Aber es sollte auch nicht übersehen werden, dass sich eine systemische Kritik nicht an einzelnen Identitäten aufhängen darf. Sonst wird sie schwammig und bringt nur bestimmten Personen etwas.
Wir möchten euch dazu aufrufen, sexualisierte Gewalt von einem heterosexistischen Analysemodell abzukoppeln. Wir alle haben Grenzen, die überschritten werden können. Und wir alle können Grenzen überschreiten. Denkt Übergriffigkeit und Täter:innenschaft außerhalb von hetero Kontexten. Überlegt euch, dass Täter:innenschaft in beide Richtungen funktioniert. Denkt daran, dass es Wege gibt, risk aware and consensual mit Partner:innen kinky Sex und Intimität zu haben. Bspw. puppy play, age play oder sogar rape play – Dinge, die wunderbar konsensuell und spaßig sein können. Dinge, die von ziemlich vielen Menschen als problematisch bezeichnet werden. Denkt auch daran, dass es nicht so schwarz-weiß ist, wenn Sex auf Drogen geschieht. Betrachtet vor allem auch die Hürden, Menschen auf ihre Täter:innenschaft hin anzusprechen.
Denn dass das so schwer fällt, liegt auch daran, dass es undenkbar ist, selbst Täter:in zu sein. Wir haben so unfassbare Angst davor, der ausführende Arm des Patriarchats zu werden, dass wir übersehen, dass wir im Patriarchat leben und natürlich beigebracht bekommen haben, patriarchal zu handeln. Egal, wer wir sind.
Es braucht langfristige Strategien. Es braucht Ehrlichkeit. Es braucht den Mut, sich eigene Übergriffigkeit einzugestehen und es braucht ungebrochene Solidarität mit den Betroffenen.
Das Thema ist fürchterlich anstrengend. Aber, wie schon unzählige andere Initiativen vor uns klar gemacht haben – wir dürfen nicht mehr Schweigen.

Queering Defaults, 8. März 2021


English:

sexualized violence and assault in queer spaces

Hello, we are part of Queering Defaults. We are a queer intersectional activist group that was founded in June 2020. The following speech will be about sexualized violence and assault in queer spaces. We hereby issue a trigger warning. However, it will be more of a reflection on the topic. We will not describe any actions in a graphic way.

For the sake of transparency, we as Queering Defaults did not come up with the idea of addressing the issue of sexual violence in queer spaces on our own. In June 2020, when we formed, we wanted to criticise the CSD as it is currently happening in Leipzig and making our own intersectional events for the community.
As well as you might, in our group there were and are also people affected by the Monis Rache incidents. In our group there were and are also people living in the East of Leipzig, where recently several perpetrators were named and assaults were made public.
Sexualized violence in the radical left is not un-heard of by us. And we ourselves have also experienced sexualized violence in various forms, both in sexual contexts and in everyday life.
So the topic is in fact present. Nevertheless, we did not think to put it on our agenda for a long time.

Last fall, we received a request from people in the community asking if we could concern ourselves with it, if we might even want to organize an event focussing on it. Especially in the queer party and event scene in Leipzig – and certainly elsewhere – sexualized violence could be found. However, the focus on it was missing, there was a kind of consensual silence in relation to queer spaces.
We began to exchange ideas in the group, to clarify terms and to share experiences. At the beginning, many of us thought that they actually had quite little contact with sexualized violence. Some were able to name that they had experienced assaults. But they often lacked the strength to talk more about it. That is more than understandable, and not wanting to open up wounds is completely okay.
Over the weeks, we came up with different terms. Consent, principle of consent, authority to define, awareness…. and others. Meanwhile, more and more experiences and situations came to mind where we were in fact affected ourselves after all. Supposedly small assaults came back to mind, also sexual acts to which we would have preferred to say “no” in retrospect.

Our most important realization so far, however, was that we ourselves were perpetrators or could still become perpetrators. The idea that only cis men can be perpetrators is simply nonsense. Sexualized violence can occur in lesbian romances, it exists in bisexual one-night stands, between trans* people in long-term relationships, at sex parties, and also between gay cis men.
A consideration of sexualized violence must not only be concerned with heterosexual relationships between cis people, and it must not only be about identifying and calling out cis men as perpetrators. Otherwise, that reproduces norms, in terms of sex, gender, relationship models, and role expectations. With respect, we appreciate your work on the topic, but please, please don’t forget queer people in your analysis. Patriarchy hides everywhere and with it sexualized violence. It would be short-sighted to say that a victim could never become a perpetrator. It may hurt to hear this, but of course I, as a victim of sexualized violence, can commit an assault on another – or even on the same – person. Even when I don’t intend to, and even when we’ve talked at length about consent.
We have to get rid of the idea that it is enough to identify and call out perpetrators. After all, the process continues beyond that. We need functioning concepts for dealing with perpetrators, for implementing the wishes of those affected over time, and we need structures that can prevent this kind of violence in the long term, which also work in acute situations or even years after assaults.
To a greater extent than what happened in Leipzig last year, we need a public discourse on the topic that concerns everyone. We need to rethink the status quo.

Now what does all this have to do with queer spaces?, you may be asking. Well, let us give you a few examples and lines of thought we’ve come across. We are only a small group and don’t have the resources to do empirical studies. That’s why this is more of an attempt to name problem areas. We ourselves don’t have answers to everything yet either.

A lesbian cis woman is in a long-term relationship with another cis lesbian. It’s going great, they finally have peace from the patriarchy. For many months the sex is cool, they don’t have to worry about assault, after all they have an understanding of the consent. After half a year, however, one person opens up to her partner that there were definitely situations in which she felt pressured to have sex, where in retrospect she would have preferred to say “no”. Now what?

A trans* person has come out. People are finally starting to call her by her real name. She downloads tinder, is up for meeting a few people in the new city, maybe there’s a cute flirt in it? It quickly becomes clear that some people only get in contact because they want to date a trans* person, preferably pre-surgery or pre-hormones. These people are “chasers”. The person is not interested in Tinder anymore, but also in real life they can’t get rid of the idea of being desired only for their gender identity and their body. Now what?

Two people, who are not cis men, have had a crush on each other for a long time. They make out a lot and that’s cool. One person would like to have sex, the other person says no, even if it is hard. The topic of sleeping with each other accompanies them for many months. The second person becomes sad, because they have never had sex. But at the same time the desire is there and with every touch, every attempt to “start something” the fear of committing an assault also bothers the person. Intimacy becomes torture because of this mixture of expectations and needs and the attempt not to cross boundaries. Only later does a person open up that they assume to be asexual themself. Not having slept with each other makes a lot of sense, was good for both parties involved. Still, the acquired fear of crossing boundaries with every move remains. It won’t make future romances any easier neither. Now what?

A gay person is on Grindr and Tinder a lot. Physical interaction is important to them, getting to know people – even if only for short sex dates – is fun. Over time, however, the person encounters more often the feeling of just being a body that provides closeness and also the feeling that sex is occasionally expected. After all, they had met on Grindr. On the one hand, one night stands are quite right for the person, on the other hand, it sometimes feels like crap. Navigating your own needs and the expectations created by the app and also specifically by gay contexts is not so easy. Now what?

A sex party is to be hosted. All are looking forward to the fact that in
their small backwater town finally a queer event is going on. There are even people who are willing to clean up afterwards. But now the question arises, how to enforce radical consent. How to make it clear to all people that in order to have sex a verbal “yes” in mandatory? How reliable is consent actually at a party where drugs and substance use will also play an important role? The awareness crew is torn between the desire to create a community meeting space and the challenge of avoiding sexualized violence. Now what?

There are also techno parties and open airs. It’s cool because they’re open to all people, but queers can easily recognize each other. Clothes, community, dance style – it’s easy, you know. People also like to get closer to each other sexually. However, some of them are not so consistent when it comes to consent. Sexual favors are asked for. Reports of shitty experiences with a person well-known to the scene pile up on bush radio. The person in question is important to the queer community, they have done a lot for the local scene and therefore rightly gained respect. Those affected do not know whether they are allowed to bring up the subject. Those, who are knowing of what is going on, are gnawed by the question of how much there is to the reports, whether they are allowed to out-call the person who is already marginalized and whether they themselves are not actively protecting the perpetrators. The problem is postponed. Now what?

Okay.. Not okay… How many power dynamics could you count? What were the reasons for becoming a perpetrator? Did being cis male really play such a big role?
We think: No.
It cannot be ignored that straight cis masculinity is structurally the most powerful position in patriarchy. However – it should also not be forgotten that a systemic critique should not get hung up on individual identities. Otherwise it becomes fuzzy and only benefits certain individuals.
We would like to call on you to detach sexualized violence from a heterosexist model of analysis. We all have boundaries that can be crossed. And we can all cross boundaries. Think of assault and perpetratorship outside of hetero contexts. Consider that perpetratorship works both ways. That there is a safe, sane and consensual way to share kinky ways of sex and intimacy with a partner – for example things like puppy play, age play, rape play – that are perfectly consensual and fun. Things, that might be considered hurtful or problematic by the greater public. That it is not so black and white when sex is happening on drugs. Consider the barriers that make it so complicated and stressful to approaching people about their perpetratorship and how they have hurt someone.
Part of the reason it is so hard to speak up about sexualized violence, is that it is unthinkable for oneself to be a perpetrator. We are so terrified of becoming the executive arm of patriarchy that we overlook the fact that we exist in patriarchy and have naturally been taught to act in patriarchal ways. No matter who we are.
It takes long-term strategies. It takes honesty. It takes courage to admit one’s own acts of assault, and it takes unwavering solidarity with those who are affected. The topic is terribly exhausting. But, as countless other initiatives before us have made clear – we can no longer remain silent.

Queering Defaults, 8th March 2021

Was alles wichtiger als Corona-Leugner:innen ist

Was alles wichtiger als Corona-Leugner:innen ist

Der folgende Redebeitrag ist von Einzelpersonen der Gruppe QueeringDefaults geschrieben worden. QueeringDefaults ist queer-intersektional und seit Juni 2020 in Leipzig aktiv.

Wen sehen wir heute in Leipzig? Wer ist gekommen, um angeblich für Grundrechte einzutreten und eine Freiheit einzufordern, die aber nur für eine ausgewählte Handvoll Menschen gilt? Wir sehen Esoteriker:innen, Schwurbler:innen, Kader von rechtsradikalen Organisationen, Rassist:innen, Antisemit:innen, Faschist:innen. Wir sehen Menschen, die in der Vergangenheit und auch heute aktiv zu Gewalt gegen BIPOC-Personen, gegen Queers und andere, die ihnen nicht ins Weltbild passen, aufrufen. Wir erkennen bekannte Gesichter, die im Internet hetzen, die in Connewitz damals dabei waren, die in Chemnitz standen, die Verbindungen in alle Ecken der Bundesländer haben.
Ja, das ist ein besorgniserregender Anblick. Uns ist bewusst, dass von Corona-Leugner*innen und allen Rechten jedweder Couleur, die sie begleiten, akute Gefahr ausgeht. Sie sind nicht zu verharmlosen. Das haben andere Redebeiträge heute bereits gut sichtbar gemacht.

Wir haben aber keine Lust, diesen Menschen viel Aufmerksamkeit zu schenken. Das, was sie auf einer inhaltlichen Ebene erzählen, ist quasi eine leere Luftblase, die gefüllt ist mit den wildesten Theorien, Lügen und fürchterlichen, menschenverachtenden Aussagen. Es ist für uns unerträglich, dass Menschen tatsächlich denken, dass sie auf so einer Grundlage für “Freiheit” kämpfen können.
Ihr, die ihr heute auf dieser Kundgebung seid, wisst aber bestimmt schon, dass Faschismus und Coronaleugnen nicht weit voneinander entfernt sind.

Deshalb möchten wir euch ein paar andere Dinge auf den Weg geben. Die folgenden Dinge finden wir wichtiger, als die Verschwörungserzählungen der Faschos:

Wichtiger als Corona zu leugnen, ist es jetzt nämlich, an die Menschen in den Wiens, den Halles und den Hanaus dieser Welt zu denken. Die Liste der Städte ist lang, die Namen aber werden wir nicht vergessen.
Wichtiger ist es daher auch, jeden Antisemitismus, jeden Islamismus und jeden antimuslimischen Rassismus, der sich als unberechtigte “Islam-Kritik” tarnt, als solche zu erkennen und zu verurteilen.
Wichtiger ist es, sich mit rechten, nationalistischen oder homofeindlichen Strukturen in allen religiösen Gemeinschaften kritisch auseinanderzusetzen.
Wichtiger ist es ebenfalls, dass die Angriffe auf Rojava aufhören und dass Proteste wie in Nigeria Beachtung finden.
Wichtiger ist die feministische Bewegung in Lateinamerika, die Kämpfe der Mapuche und anderer indigener Gruppen und die Revolten dort.
Wichtiger als Corona als etwas Ausgedachtes darzustellen, ist es, dass Rodungen für Profite gestoppt werden, Kohlekraftwerke abgeschalten werden und die Forderungen von jungen Menschen ernst genommen werden. Systemwandel statt Klimawandel!
So viel wichtiger sind aber auch die Kämpfe, die in Polen derzeit gegen die Abtreibungsgesetze und die PiS-Partei geführt werden.
Wichtiger sind die gegen widrigste Umstände andauernden Proteste in Belarus.
Wichtiger ist es, sich mit Änderungen des Selbstbestimmungsgesetzes zu befassen und endlich diese Farce zu beenden, zu der Trans*, Inter* und Nicht-Binäre* Menschen täglich gezwungen werden.
Wichtiger als Coronoleugnen ist es auch, Queerfeindlichkeit und die kapitalistische Nutzbarmachung unserer queeren Bewegungen aufzuhalten.
Wichtiger ist es, dass unser Feminismus die Überschneidungen von race, class und gender mitdenkt und dass Trans*feindlichkeit nichts im Feminismus verloren hat!
Wichtiger ist es, dass Barrieren abgebaut werden und dass die Menschen, die jeden Tag für Disability Justice kämpfen, gehört werden! Wir fordern mehr Geld für den Ausbau barrierefreier Räume, Veranstaltungen und Dolmetschungen.
Wichtiger ist es, dass Kunst- und Kulturschaffende nicht leer ausgehen und dass mit dem richtigen kritischen Maß gefragt wird, wieso OBI quasi 24/7 öffnen durfte, das kleine Café nebenan mit den Draußentischen aber nicht.

Wichtiger ist es, dass diejenigen, die nicht im home office arbeiten können, sichere Arbeitsschutzbedingungen erhalten und dass Menschen, die nicht arbeiten dürfen oder können angemessen unterstützt werden. Sex work is real work!
Wichtiger sind faire Löhne in der Pflege und bessere Pflegeschlüssel. Meistens sind es Frauen, Lesben, Inter*, Nicht-Binäre*, Trans* oder Agender Personen, die Care- und Sorgearbeiten übernehmen. Das muss anerkannt werden!
Wichtiger ist es, an direct support zu denken, Gabenzäune wieder einzurichten und Soliaufrufe zu unterstützen.
Wichtiger ist es, dass alle in dieser Pandemie und ihren gesellschaftlich-politischen Auswirkungen ein Dach über dem Kopf haben.
Wichtiger ist es für uns daher auch, dass linke Freiräume bestehen bleiben, dass Menschen ohne Unterkunft eine Bleibe finden, dass Mieterhöhungen ausgesetzt werden und dass Zwangsräumungen gestoppt werden.
Und wenn wir schon von Wohnraum sprechen – Es ist doch ganz offensichtlich wichtiger, endlich einen menschenwürdigen Umgang mit Geflüchteten zu finden. Wieso musste Moria erst brennen und wieso interessiert sich keine:r dafür, dass die neuen sogenannten Unterkünfte, nicht mal Böden haben und was jetzt mit diesen Menschen und allen anderen, die auf der Flucht sind, eigentlich passiert?!
Wichtiger ist es uns auch, dass die NGOs, die vor Ort notwendigste Hilfe leisten, daran nicht gehindert werden!
Wichtiger ist es auch beiweitem, sich den ganzen “Einzelfällen” in der Polizei mal anzunehmen. NSU 2.0? Nordkreuz? Hannibal? Aber: “Nein, nein, die deutsche Polizei und die deutschen Behörden sind nicht rassistisch.”
Wichtiger ist es, Abschiebungen einfach mal sein zu lassen. #LeaveNoOneBehind und WirhabenPlatz sind keine leeren Phrasen!

Wichtiger, als zu behaupten, Corona gäbe es nicht, ist es schließlich, dass wir wütend sind!
Wir sind wütend, dass wir jeden Tag Kämpfe gegen Rassismus, Antifeminismus, Queerfeindlichkeit, Klassismus, Ableismus, Antisemitismus, Antiromaismus/Antiziganismus und dann auch noch gegen die ganzen anstrengenden gesellschaftlichen Normen führen müssen.

Aber, und das ist uns ganz besonders wichtig, wir sind stolz auf das, das wir schon geschafft haben.
Wir sind stolz auf unsere Freund:innen, unsere Genoss:innen, unsere selbstgewählte Familie und unsere Communities.
Was uns Kraft gibt, ist, dass wir einander zuhören, fehlerfreundlich sind und uns gegenseitig mitdenken. Unsere Solidarität für einander macht uns stark. Und Solidarität? – Solidarität muss praktisch werden!
In diesem Sinne: the future is intersectional!